Keine Panik, Orson?

In einem lesenswerten Beitrag auf „Lesen mit Links“ zweifelt Jan Drees an, dass es 1938 bei der Erstausstrahlung des legendären „Krieg der Welten“-Hörspiels von Orson Welles zu einer mittlerweile ebenso legendären Massenpanik kam.

Grundsätzlich stützen sich Drees‘ Zweifel (und die diverser Wissenschaftler) auf die Zweifelhaftigkeit einer Studie von 1940, in der lediglich 100 Leute befragt wurden, die darüber hinaus ausgewählt wurden, weil sie bei der Radiosendung tatsächlich in Panik geraten seien. Das könnte mich auch zweifeln lassen, aber wenn Drees schreibt

„Der tatsächliche Clou dieser Geschichte liegt allerdings darin, dass die Inszenierung des Hoax’ keineswegs mit dem Fake-Doku-Teil von „The War of the Worlds“ beendet war. Nach dreißig Minuten wechselt die Invasionsinszenierung in gewöhnlich-trockene Studiodialoge und niemand könnte dort auf die Idee kommen, hier fände etwas anderes als Fiktion statt.“

muss ich aus handwerklichen Gründen und aus eigener Erfahrung widersprechen. Ich erinnere mich nämlich noch sehr gut an die Erstaustrahlung von Wolfgang Menges bahnbrechendem TV-Film „Das Millionenspiel„, einen dokumentarisch aufgemachten Thriller über eine TV-Show, deren Gegenstand eine echte Menschenjagd ist.

Der Film hat zwar keine Massenpanik ausgelöst, aber noch während der Ausstrahlung haben die Zuschauer massenhaft versucht, die in der fiktiven Show eingeblendeten fiktiven Telefonnummern anzurufen. Sie haben im Sender angerufen und sich nicht über den Film, sondern über die Show beschwert. Und sie haben sich für die nächsten Shows beworben, nicht nur als Gejagte sondern auch als Jäger. Und in den Tagen darauf ging es in den Leserbriefspalten der Zeitungen und Magazine weiter: Es wurde nicht der TV-Film kritisiert, sondern die fiktive TV-Show.

Wobei die Diskrepanz hier wirklich enorm war, denn „Das Millionenspiel“ war ja letztlich kein reiner Thriller, sondern ein Film darüber, wie das Fernsehen die Wirklichkeit manipuliert. Die Erzähl-Perspektive wechselte ständig zwischen der ausgestrahlten Show, dem Blick hinter die Kulissen, wo man sieht, wie die Macher der Show die Ereignisse zu beeinflussen versuchen und einer Ebene, die die Erlebnisse des Gejagten schildert und für den eigentlichen Suspense des Films sorgt (ganz, ganz große Leistung von Hauptdarsteller Jörg Pleva, übrigens). Mir war damals als junger Mensch vollkommen unverständlich, wie überhaupt jemand den Film derart missverstehen konnte, dass er die darin geschilderten Ereignisse für bare Münze nahm.

Die Menschen haben es trotzdem getan, genau wie bei Orson Welles und bei jedem guten Autor von Drehbüchern oder Romanen: Weil sowohl „Krieg der Welten“ als auch „Das Millionenspiel“ am Anfang eine perfekt authentische Atmosphäre schaffen. Ist dieser Boden gelegt, hat sich der Zuschauer oder Leser einmal dafür entschieden, das Gezeigte für wahr zu halten, dann ist es beinahe unmöglich, ihn von dieser Annahme wieder abzubringen, selbst wenn man allerschwerstes Geschütz auffährt.

Deshalb glaube ich nicht, dass die Panik um Welles‘ „Krieg der Welten“ eine reine Medieninszenierung war, wie der eingangs verlinkte Artikel darstellt. Ich halte es für wahrscheinlicher, dass die Medien in den Tagen nach der Ausstrahlung eine reale, kleinere Panik 1 reale Ereignisse aufgegriffen und – wie man so schön sagt – medienwirksam vergrößert haben. Dafür, dass es tatsächlich zu Paniken gekommen ist, gibt es übrigens auch Zeugen. Die es wissen sollten.

Dank an die Kaltmamsell, die mich auf das Thema aufmerksam gemacht hat.

 

  1. die angezweifelte Studie spricht ja von „Tausenden von Amerikanern“, eine Zahl in den Tausenden halte ich für realistisch