Wie anfangen?

Viele Menschen, verblüffenderweise auch solche, die sich schon länger mit diesem wunderbaren Handwerk befassen, schenken dem Anfang ihrer Texte verblüffend wenig Aufmerksamkeit. Viele angehende Autoren benutzen den Anfang ihrer Texte unverhohlen, um sich „einzuschreiben“, um selbst als Erzähler in die Geschichte „hineinzukommen“.
Eigentlich sollte es selbstverständlich sein, einen derartigen Kardinalfehler zu vermeiden. Wenn man für die Veröffentlichung schreibt, schreibt man für den Leser, nicht für sich selbst. Und 99,9 % der Leserschaft interessieren sich vollkommen zurecht nicht für das „in die Gänge kommen“ schwerfälliger Autoren.
Sicherlich gibt es kein Patentrezept für den optimalen Beginn einer Geschichte oder eines Romans. Aber wenn man sich einmal das Vergnügen (Es ist keine Mühe!) macht, zu analysieren, wie der ein oder andere Kollege in sein Buch einsteigt, findet man eine Gemeinsamkeit: Die meisten erfolgreichen Autoren, Klassiker wie Moderne, beginnen umgehend damit, aufs Ziel loszusteuern. In den ersten Sätzen bzw. Absätzen sagen sie dem Leser gerade heraus, um was es geht. Über das Thema der Geschichte (und oftmals auch über ihren Charakter und Verlauf) kann es nach der erste Sätze meist keinen Zweifel mehr geben.
Als ersten Beleg für diese These (Ich hab noch ein paar weitere Beiträge zum Thema „Anfang“ in petto.) möchte ich den Anfang von Charles Dickens‚ „Oliver Twist“ zitieren:

Erstes Kapitel

Handelt von dem Orte, wo Oliver Twist geboren ward, und von Umständen, die seine Geburt begleiteten

In einer Stadt, die ich aus mancherlei Gründen weder nennen will, noch mit einem erdichteten Namen bezeichnen möchte, befand sich unter anderen öffentlichen Gebäuden auch eines, dessen sich die meisten Städte rühmen können, nämlich ein Armenhaus. In diesem wurde an einem Tage, dessen Datum dem Leser kaum von Interesse sein kann, der Kandidat der Sterblichkeit geboren, dessen Namen die Kapitelüberschrift nennt.
Lange noch, nachdem er bereits durch den Armenarzt in dieses irdische Jammertal eingeführt war, blieb es höchst zweifelhaft, ob das Kind lange genug leben würde, um überhaupt eines Namens zu bedürfen. Es hielt nämlich ungemein schwer, Oliver zu bewegen, die Mühe des Atmens auf sich zu nehmen, allerdings eine schwere Arbeit, die jedoch die Gewohnheit zu unserm Wohlbefinden nötig gemacht hat. So lag er, eine geraume Zeit nach Luft ringend, auf einer kleinen Matratze, wobei sich die Waagschale seines Lebens entschieden einer besseren Welt zuneigte. Wäre Oliver damals von sorglichen Großmüttern, ängstlichen Tanten, erfahrenen Wärterinnen und hochgelehrten Ärzten umgeben gewesen, so wäre er unzweifelhaft mit dem Tode abgegangen, so aber war niemand bei ihm als eine arme alte Frau, die infolge ungewohnten Biergenusses ziemlich benebelt war, und ein Armenarzt, der vertragsgemäß bei Geburten Hilfe leisten mußte. Oliver hatte deshalb die Sache mit der Natur allein auszufechten. Das Ergebnis war, daß Oliver nach einigen Anstrengungen atmete, nieste und endlich damit zustande kam, den Bewohnern des Armenhauses die Ankunft einer neuen Bürde für die Gemeinde durch ein so lautes Schreien anzukündigen, als sich füglich von einem Jungen erwarten ließ, der die ungemein nützliche Beigabe einer Stimme erst seit drei und einer viertel Minute besaß. Da erhob sich das bleiche Gesicht einer jungen Frau mit Mühe von den Kissen und eine schwache Stimme flüsterte kaum vernehmbar: „Lassen Sie mich das Kind sehen, dann will ich gern sterben.“

In Kapitelüberschrift und den beiden ersten Absätzen steht beinahe schon der ganze Roman drin. Beinahe.